Die Ausdrücke, „psychische Gesundheit“ und „psychische Krankheit“ stellen nicht eindeutige Klassifikationen dar, mit deren Hilfe wir Symptomen zuordnen können und nachher sagen können, „Sie ist psychisch gesund“ oder „Er ist psychisch krank“. Sie sind eher Ausdrücke, die sich auf unsere Wahrnehmung oder die von anderen Leuten beziehen.
Vielleicht nimmt es der Mann in der U-Bahn, der teilweise sehr laut mit einem unsichtbaren Gesprächspartner redet und Gegenstände um sich wirft, so wahr, dass er sich selbst für „psychisch gesund“ hält. Seine Mitfahrer zum größten Teil schätzen ihn allerdings als „psychisch ungesund“, weil sein Verhalten für sie nicht „normal“ wirkt.
Vielleicht nimmt es eine Frau, die sich einsam und von ihrer Familie missverstanden und unter Druck gesetzt fühlt, so wahr, dass sie sich selbst für „psychisch ungesund“ hält. Die Überwiegende Mehrheit von Menschen, die mit dieser Frau zu tun haben, schätzen ihr Verhalten allerdings als „normal“ und sie besucht einen Psychotherapeut, der feststellt, dass sie wohl in der Lage ist, ihren Alltag zu bewältigen. Diese Frau braucht ohnehin jemanden, der ihr hilft ihre Probleme von einem anderen Blickwinkel zu sehen und neue Verhaltensstrategien zu entwickeln.
Die Klassifikationen, „psychisch gesund“ und „psychisch ungesund“ bilden auch eine Skala (der Wahrnehmung), wo man sich zwischen gesund und ungesund bewegen kann. Zum Beispiel, die meisten Leute, die mit der vorher erwähnten Frau über ihr Problem reden würden, würde sie nicht als 100% psychisch gesund schätzen, weil sie eindeutig belastende „Probleme“ hat, aber auch nicht als 100% psychisch ungesund, da sie eindeutig „nicht in der Psychiatrie“ gehört. Fangt die gleiche Frau aber an, ihre Probleme als immer belastende wahrzunehmen, damit sie zum Beispiel nicht mehr aus dem Haus treten kann, dann bewegt sie tendenziell viel stärker Richtung „psychisch ungesund“ in unserer Wahrnehmung“.
Diese Aussagen „psychisch gesund“ und „psychisch ungesund“ sind dann Ergebnisse des Prozesses, wenn wir im Kontakt mit jemandem auftreten. Dieses Ergebnis ist eine Bewertung, die sich auf gesammelte Beweise bzw. Interaktionen mit der Person und Beobachtungen basiert. Diese Erfahrungen werden dann mit unserer früher gemachten Erfahrungen und Erinnerungen von psychisch „gesund“ und „ungesund“ verglichen und überprüft. Ist die Übereinstimmung stark genug, dann bekommt die Person die Etikette! Im neurologischen Sinne, wenn der Muster eine ausreichende Anzahl von Neuronen in einer gewissen Konfiguration stark genug zu feuern, verursacht, dann kommt die entsprechende Repräsentationsform für „gesund“ bzw. „ungesund“ zum Vorschein.
Das heißt dann für die Psychotherapie, dass eine „Diagnose“ kein fixes Merkmal von einem Klienten ist, sondern das Ergebnis einer Auseinandersetzung des Therapeuten mit dem Klienten ist, wo die Erinnerungen und Erfahrungen des Therapeuten auch eine wesentliche Rolle haben. Wird dies der Fall ist, ist die Selbstreflexion seitens des Therapeuten ganz wichtig für die Diagnose:
- Welche Filter oder Brille setzt man auf? D.h. welche Einflüsse könnte die eigene Erlebnisse und Lernerfahrungen auf die Diagnose haben? Was blenden die Brille aus?
- Hier ist es wichtig zu merken, dass wir auf der Basis Informationen tilgen, verzerren und vor allem im Sinne einer Diagnose verallgemeinern. Wichtig ist für den Therapeut über diese Prozesse zu reflektieren.
Psychotherapeut (systemische Familientherapie), Paartherapeut (ICEEFT), Senior Coach Coach (ACC, IOBC), Hypnotherapeut, Traumatherapeut. Mitglied des Lehrkörpers bei diversen österreichischen und internationalen Fachtagungen sowie Author von diversen Artikeln und Beiträgen in Büchern.
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